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Darstellung von Vollgeld im Rahmen eines
100%-Reservesystems

Einleitung
Das folgende Fünf-Punkte-Konzept zeigt auf, wie sich Vollgeld im Rahmen eines 100%-Reservesystems nachbilden lässt. Ein Reservesystem – gleich, ob es sich um eine 100%-Reserve oder eine Bruchteil-Reserve wie im heutigen Giralgeldregime handelt – beruht auf einem gesplitteten Geldkreislauf, nämlich dem Split zwischen dem Publikumskreislauf unter Nichtbanken auf der Basis von Giralgeld (Banken-Buchgeld), und dem Interbankenkreislauf auf der Grundlage von Reserven (Zentralbank-Buchgeld). In einer Vollgeldordnung dagegen besteht nur noch ein einziger integrierter Geldkreislauf unter Banken ebenso wie Nichtbanken auf der Grundlage von Vollgeld in jeder unbaren und baren Form (Kontogeld, elektronisches Geld, Geldscheine, Münzen).

Die meisten Verteidiger eines 100%-Ansatzes halten die Unterschiede zu Vollgeld für unbedeutend und denken, es sei einfacher und praktischer, den gesplitteten Kreislauf beizubehalten als zu einem einheitlichen Kreislauf überzugehen. Dabei sagt einem schon der gesunde Menschenverstand, dass ein gesplittetes System komplizierter und aufwendiger sein muss als ein einfaches.

Beide Systeme beanspruchen, Giralgeld zu unterbinden und ausschließlich auf der Grundlage von Vollgeld, also Zentralbankgeld bzw gesetzlichen Zahlungsmitteln zu operieren. Tatsächlich jedoch bleibt ein 100%-Reservesystem, das nichts weiter tun würde als die bestehende 1% Mindestreserve auf 100% anzuheben, ein gemischtes System aus Giralgeld (Bankengeld) und Vollgeld (Zentralbankgeld), wobei die Geldschöpfung weiterhin pro-aktiv von den Banken vorgenommen würde, während die Zentralbank darauf re-agiert, indem sie die Banken zum nötigen Bruchteil jederzeit mit Reserven re-finanziert.

Im folgenden wird dargelegt, welche fünf Änderungen in einem 100%-Reservesystem implementiert werden müssten, damit es im Ergebnis wie ein Vollgeldsystem arbeiten würde:
1.  Neudefinition des Sinn und Zwecks von Reserven
2. Anhebung der heutigen Mindestreserven auf 100% Einlagereserven sowie Gewährleistung von 100% Eigenreserven einer Bank für Zahlungen auf eigene Rechnung
3. Freistellung der M2/M3-Guthaben von der Reserven-Anforderung
4. Behandlung der 100% Einlagereserven als wären sie das Eigentum der Kunden 
5. Synchronisierung der Sichtguthaben und der 100% Einlagereserven. 

1.  Neudefinition des Sinn und Zwecks von Reserven
Heutige Mindestreserven sind als ein Instrument der Geldpolitik gedacht. Es soll damit der vermeintliche Geld- bzw Kreditmultiplikator der Banken begrenzt werden. Ein solcher Multiplikator bleibt jedoch eine reine Rechengröße, der kein tatsächlicher Vorgang entspricht. Die Realität ist die einer pro-aktiven Kredit- und Depositenerzeugung (= Giralgeldschöpfung) durch die Banken, für welche die Zentralbank nachträglich und re-aktiv  die noch erforderlichen Bruchteilreserven bereitstellt. Die Mindestreserve-Anforderung wird mit einem Nachlauf von über einem Monat ermittelt und gilt für den kommenden Monat, ungeachtet der zusätzlichen Giralgeldmengen, welche die Banken in der ganzen Zeitspanne erzeugen. Dies lässt den Banken jeden Spielraum den sie haben möchten – und ein 100%-System ist in dieser Hinsicht in keiner Weise anders (außer dass Banken bzw ihre Kunden die zusätzlichen Zinskosten einer 100%-Reserve tragen müssen). Mindestreserven liegen brach. Sie dienen nicht als Sicherheitsnetz für Kunden-Einlagen. Mindestreserven sind für eine Bank nicht verfügbar, nur Überschussreserven sind verfügbar.

Um ein Vollgeldsystem zu emulieren, müssen die Reserven neu definiert und umgewidmet werden. Das bezieht sich zum einen auf die bisherigen Mindestreserven und die Giroguthaben der Kunden (die sog. Sichteinlagen oder Sichtdepositen). Der Bestand und die Übertragung von Giroguthaben im Zahlungsverkehr muss sich in einem gleich hohen Bestand und der Übertragung von liquiden Deckungsreserven spiegeln, und zwar zu 100% ohne jede Abweichung zu irgendeinem Zeitpunkt.

Im Zusammenhang damit werden auch die Überschussreserven nicht mehr sein was sie bisher waren. Bisher dienen sie der Begleichung von bruchteilig (fraktional) sich ergebenden Salden im Zahlungsverkehr zwischen Banken. Stattdessen würden sie nun die eigenen Zahlungsmittel einer Bank darstellen. Diese werden nicht gebraucht, um Kundenzahlungen auszuführen, sondern für Zahlungen der Bank auf eigene Rechnung, ganz gleich ob die  Empfänger Kunden, andere Banken oder die Zentralbank sind.        

Verschiedene Begriffe können hier helfen, Klarheit zu wahren. Anstatt weiterhin von Mindest- und Deckungsreserven sowie Überschuss- und Zahlungsreserven zu sprechen, was sich auf ein herkömmliches Reservesystem beziehen, bietet es sich an, von Eigenreserven einer Bank und Einlagereserven auf Kunden-Guthaben dieser Bank zu sprechen.

Was Verbuchung und Bilanzierung angeht, können beide Arten von Reserven im Prinzip auf ein und demselben Konto geführt werden. Es würde aber zu erhöhter Transparenz beitragen, sie auf zwei verschiedenen Konten zu führen – einem Einlagenreserven-Konto und einem Eigenreserven-Konto – bei automatischem Transfer zwischen beiden entsprechend den laufenden Zahlungen und sonstigen Übertragungen.  

2. Anhebung der heutigen Mindestreserven auf 100% Einlagereserven sowie Gewährleistung von 100% Eigenreserven einer Bank für Zahlungen auf eigene Rechnung
Jeder 100%-Ansatz beinhaltet, die vorhandene (in etlichen Ländern tatsächlich nicht einmal mehr vorhandene) Mindestreserve von heute 1% im Euroraum auf ein Niveau aufzustocken, das 100% der vorhandenen Kundeneinlagen entspricht. Das ist weniger simpel als es vielleicht klingt. Zunächst muss entschieden werden, ob die Anhebung für alle Kundenguthaben in M1, M2 und M3 gelten soll, oder nur für die liquiden Giralgelder in M1. Letzteres wird hier bevorzugt, denn nur letzteres entspricht einer Vollgeldordnung sinngemäß. Des weiteren ist zu entscheiden, ob die Anhebung mit einem Schlag erfolgen soll oder Schritt für Schritt im Verlauf einiger Jahre. Nicht zuletzt ist die Anhebung von 1% auf 100% Einlagereserven bei sonst gleich bleibenden Bedingungen sehr teuer. Denn die Sollzinsen auf die entsprechenden Zentralbankkredite oder anderweitig aufgenommenen Mittel wären zusätzlich zu den bisher schon zu zahlenden Habenzinsen auf Kundeneinlagen zu zahlen.       

In einem Vollgeldsystem ist das anders. Die Giroguthaben der Kunden werden aus der Bankbilanz ausgebucht und auf ein eigens eingerichtetes Geldkonto übertragen (womit die Bankverbindlichkeiten an die Kunden und die Kundenforderungen an die Bank abschließend erfüllt sind). An die Stelle der bisherigen täglich fälligen Bankverbindlichkeiten gegenüber den Kunden tritt eine gleich hohe Verbindlichkeit gegenüber der Zentralbank, so als habe von vornherein diese selbst die betreffenden Mittel geschöpft. Diese Übergangsverbindlichkeit soll vorrangig oder nach einem ausgehandelten Plan getilgt werden, aber zinsfrei bleiben, da kein Neugeschäft damit verbunden ist. Von daher entstehen den Banken nur insoweit zusätzliche Finanzierungskosten wie sie neue Geschäfte tätigen – die sie dann zu 100% finanzieren müssen wie alle anderen Wirtschaftsteilnehmer auch.

Um in einem 100%-System etwas Vergleichbares zu erreichen, müsste den Banken die Aufstockung der Reserven auf 100% zu sehr geringen Kosten oder kostenfrei ermöglicht werden. Die Praxis der EZB ist davon nicht so weit entfernt. Sie leiht den Banken benötigte Mindestreserven zu beispielsweise 4% oder 1% Zins, und zahlt den Banken auf dieselben Mindestreserven 3% oder 0,75% Einlagezins. Der tatsächliche Zins liegt also nur bei 1% oder 0,25%. Das ist sicher nicht im Sinne der Erfindung der Reserveposition in einem fraktionalen Reservesystem (die Bundesbank hat sich aus diesem Grund immer geweigert, Einlagezins auf Mindestreserven zu zahlen), aber dieses Konstrukt ist ohnehin obsolet.

Jedoch dürfte es da ein kleines Akzeptanzproblem geben. Den Banken benötigte Reserven nahezu kostenlos zu überlassen, würde kaum auf ungeteilte Zustimmung stoßen. Schließlich müssen alle anderen Wirtschaftsteilnehmer ihre Vorhaben vollständig finanzieren.

3. Freistellung der M2/M3-Guthaben von der Reserven-Anforderung
Wie oben erwähnt, sollen Kundenguthaben in M2/M3 von jeder Reserve-Anforderung ausgenommen werden. Geschieht dies nicht, stellen die betreffenden Gelder – Spar- und Zeitguthaben u.a. – weiterhin einen inaktivierten Geldbestand dar, der brach liegt statt der Finanzierung laufender Bankgeschäfte zu dienen. 

Unter den heutigen Bedingungen macht die Inaktivierung von Giralgeld gegen vergleichsweise geringen Habenzins einigen Sinn für die Banken, erlaubt es ihnen doch, neuen Primärkredit und neues Giralgeld zu weit höheren Kapitalmarktzinsen zu erzeugen, ohne dabei ein zusätzliches Liquiditätsrisiko einzugehen. Wenn dagegen in einem 100%-Reservesystem Sparguthaben und ähnliche Positionen den Banken nicht verfügbar gemacht werden könnten, und dementsprechend keine Umwandlung von Einlagereserven in Eigenreserven möglich wäre,  würde dies einen erheblichen Extrabedarf an Geldmenge erzeugen, was wiederum mit entsprechenden Extra-Finanzierungskosten verbunden wäre. M2/M3-Einlagen wären zwar sicher, aber um den Preis sehr hoher, nicht wettbewerbsfähiger Kosten – es sei denn, die Banken erhielten die zusätzlich benötigten Reserven auch in diesem Fall kostenlos. Insoweit gelten bezüglich M2/M3 dieselben Überlegungen wie oben bezüglich M1.

Darüber hinaus würde die Einbeziehung der M2/M3-Guthaben in eine 100% Reserveanforderung ein entsprechend erhöhtes Potenzial an Inflation und Asset Inflation darstellen. In normalen Zeiten spielt dies keine Rolle, weil das Geld im wesentlichen ruht. Aber in Krisenzeiten oder anderen Ausnahmesituationen kann sich dies ändern.

Zur Nachbildung von Vollgeld in einem 100%-Reservesystem gehört, Sparguthaben und ähnliche Positionen nicht länger als 'deponiertes' Geld anzusehen, sondern als Kundendarlehen an eine Bank. Als solche stellen M2/M3-Einlagen kurzfristiges Kapital dar. Der damit verbundene Geldtransfer würde sich in Form eines Aktivatauschs ebenso wie eines Passivatauschs vollziehen. Aktiva-seitig werden Einlagereserven in Eigenreserven getauscht, passiva-seitig täglich fällige Verbindlichkeiten in andere Verbindlichkeiten mit Kündigungsfrist oder Fälligkeit (Laufzeit). Sparguthaben als Kurzfristkapital unterliegen einem gewissen Risiko, wenn auch normalerweise nur einem geringen. Dafür sind solche Guthaben zinstragend, während liquide Giroguthaben dies nicht sind, es jedenfalls in einem stimmigen System nicht sein sollten, sowenig wie Geldscheine und Münzen zinstragend sind.         

4. Behandlung der 100% Einlagereserven als wären sie das Eigentum der Kunden 
In einem Vollgeldsystem steht es außer Frage, dass die Guthaben auf Geldkonten Eigentum der Kontoinhaber sind. Diese sind im Vollbesitz ihres Geldes, das auch in einer Krise nicht verschwinden kann und also in seinem Bestand ebenso sicher ist wie bisher Bargeld. In einem Reservesystem dagegen – egal ob Bruchteil- oder Vollreserve, ob Einlage- oder Eigenreserven – sind die jeweiligen Reserven Eigentum der betreffenden Banken, wobei die Zentralbank einen Zugriffsvorbehalt auf die Reservenguthaben der Banken besitzt.  

In einem Reservesystem haben die Inhaber eines Giro- oder Sparkontos nur eine Forderung an ihre Bank, wie die Bank ihnen gegenüber eine jederzeit
fällige Verbindlichkeit hat. Die Kunden sind also nicht im Besitz ihres Geldes, die Bank besitzt es an ihrer Stelle – bei fraktionaler Reserve ohnedies nur zum geringen Teil, bei 100%-Reserve in gänze. Im Fall einer Krise oder Insolvenz einer Bank drohen die Kundenforderungen im Insolvenzverfahren verloren zu gehen. Dies wird gegenwärtig auch in neuen Bankenabwicklungsgesetzen so festgeschrieben, indem die Kunden als Gläubiger der Banken behandelt werden, die, falls nötig, im Zuge eines Bail-In einen Anteil an den Verlusten tragen müssen. 

Damit also Vollgeld im Rahmen eines 100%-Systems emuliert werden kann, müssen eigentumsrechtliche und regulatorische Änderungen vorgenommen werden, die gewährleisten, dass Einlagereserven so behandelt werden als wären sie das Eigentum der Kunden, das im Fall einer Bankenkrise nicht in die Haftungs- und Abwicklungsmasse fällt. Juristisch dürfte es eine umstrittene Frage sein, ob und wie man Kundenguthaben im Rahmen eines Reservesystems eine solche Vorrangstellung gegenüber den Eigentumsrechten der Banken und dem Vorbehaltsrecht der Zentralbank überhaupt zuschreiben kann. Sollte die Antwort negativ sein, wäre die Frage des Eigentums am Geld ein großes Hindernis für die Emulation von Vollgeld in einem Reservesystem.

5.  Synchronisierung der Sichtguthaben und der 100% Einlagereserven
Ein ebenso bedeutender Punkt ist die Synchronisierung der Bestände und laufenden Übertragungen von Giroguthaben und gleich hohen Einlagereserven in einem lückenlosen Echtzeitverfahren. Dies bedeutet, dass bei Kundenzahlungen alle Lastschriften 1:1 mit der gleichzeitigen Übertragung von Einlagereserven einhergehen, und dass alle Zahlungen einer Bank als vollständige Übertragung der entsprechenden Summe an Eigenreserven ausgeführt werden.    

Wenn eine Bank ein Darlehen vergibt, wird der Betrag den Eigenreserven der Bank belastet und den Einlagereserven gutgeschrieben. Andernfalls gibt es kein Darlehen. Wenn umgekehrt Kunden etwas von ihrem Geld einer Bank leihen wollen, als Sparanlage, wird der Betrag den Einlagereserven belastet und den Eigenreserven gutgeschrieben. Anders gesagt, wenn Banken Geld verleihen, findet keine Bilanzerweiterung mehr statt, sondern, wie oben bereits erwähnt, ein Aktivatausch in Verbindung mit einem entsprechenden Passivatausch. Wenn Banken Wertpapiere oder andere Aktiva erwerben, ist der Vorgang ein gleicher, indem ein Aktivatausch von Eigenreserven gegen Wertpapiere oder andere Aktiva stattfindet.  

Die erforderliche Synchronisierung kann am besten in einem sog. Real-Time Gross-Settlement System erfolgen. In einem solchen System werden Zahlungsaufträge nicht verrechnet, sondern die Zahlungen unverzüglich ausgeführt. Die entscheidende technische Frage ist, wie Bestände und Übertragungen von Giroguthaben jederzeit mit gleich hohen Beständen und Übertragungen an Einlagereserven synchronisiert werden. Dies zu gewährleisten dürfte aufwendige technische Anpassungen mit sich bringen, da die Buchungs- und Rechnungssysteme der Banken mit dem Zahlungssystem der Zentralbanken (im Euroraum TARGET2) unter diesem Aspekt 'gleichgeschaltet' werden müssen. Jede Bestandsveränderung der Giroguthaben muss mit einer synchronen Bestandsveränderung der Einlagereserven einhergehen. Dies wird wohl auch Abgrenzungs-Fragen zwischen den Banken-Rechnungssystemen und dem Zentralbank-Zahlungssystem aufwerfen.

Sicherzustellen, dass zwischen Lastschriften und Gutschriften keinerlei Verzögerungen erfolgen, und zugleich absolute Synchronisierung zwischen Einlagereserven und Giroguthaben zu gewährleisten, ist erforderlich, damit Banken keine Giroguthaben 'aus dem Nichts' mehr erzeugen können. Anders gesagt, es muss ausgeschlossen sein, dass sich die Einlagereserven zu irgend einem Zeitpunkt auf weniger als 100% der Giroguthaben, und die Eigenreserven auf weniger als 100% der zu übertragenden Summen belaufen.

Diese Bedingung kann in einem sog. Net Settlement System nicht erfüllt werden. In einem solchen System werden Zahlungsaufträge fortlaufend verrechnet, um am Ende des Tages oder sonst einer Rechnungsperiode nur den sich ergebenden Saldo in Reserven zu begleichen, oder echte Zahlungen überhaupt nur dann auszuführen, wenn vereinbarte Überziehungs-Grenzen überschritten werden. Aber auch in einem Real-Time Gross-Settlement System lässt sich die Synchron-Bedingung nur dann erfüllen, wenn noch zwei weitere Bedingungen Kriterien erfüllt werden:
- Nicht die Banken, sondern die Zentralbank muss die pro-aktive Führung in der Bestimmung der Geldmenge ausüben, auf deren Grundlage Banken ebenso wie Nichtbanken wirtschaften.
- Das Zentralbank-Zahlungssystem darf keinen automatischen Innertages-Überziehungskredit mehr zur Verfügung stellen. Dies schließt einen begrenzten Kassenkredit nicht unbedingt aus.

Im heutigen System ist Innertages-Überziehungskredit praktisch jederzeit garantiert. Fehlende Reserven werden durch die sog. Spitzenrefinanzierungsfazilität automatisch zur Verfügung gestellt. Die sonstige direkte Nachfrage der Banken nach Reserven muss wöchentlich oder einem anderen Rhythmus angemeldet werden und wird ebenfalls routinemäßig bedient. Dies bedeutet, dass die Banken jeden Spielraum erhalten, um gemäß ihren eigenen Geschäftspräferenzen pro-aktiv Primärkredit und Giralgeld zu erzeugen. Um also die Kontrolle über die Geldmenge wieder zu erlangen, muss die Routine, der Reservennachfrage der Banken automatisch nachzukommen, beendet und ersetzt werden durch eine pro-aktive und sich fortlaufend justierende Geldmengenpolitik der Zentralbank. Re-Finanzierung gäbe es praktisch nicht mehr, nur Vor-Finanzierung, bei Banken wie bei allen anderen Akteuren – außer der Zentralbank, die die vollständige Hoheit über die Geldmenge hätte (während die Geldverwendung den Banken und anderen Finanzinstituten, Unternehmen und Haushalten, und den öffentlichen Haushalten im Rahmen ihrer fiskalischen Kompetenzen überlassen bleibt).     

An dieser Stelle wird häufig eingewendet, dies wäre ein unflexibles System mit wiederkehrenden Stockungen des Zahlungsverkehrs sobald einmal nicht genug Reserven verfügbar wären. Dem ist keineswegs so. Die Erwartung würde sich  bewahrheiten, wenn im bestehenden fraktionalen Giralgeldregime die Zentralbank plötzlich damit aufhören würde, im Nachgang zur Bilanzenerweiterung der Banken jederzeit die Reserven zu liefern, die die Banken residual benötigen. Wenn jedoch Giroguthaben und Einlagereserven lückenlos in Echtzeit synchronisiert sind, und alle Bankenzahlungen ebenso vollständig und in Echtzeit in Eigenreserven ausgeführt werden, kann eine Unterdeckung mit Reserven insoweit überhaupt nicht auftreten.

Die Frage ist dann, wie und woher die Banken die nötigen Reserven erlangen. Was die Einlagereserven angeht, wurde die Sache oben bereits besprochen. Was die Eigenreserven angeht, sind die Quellen und Kanäle offensichtlich: Kundenanlagen bei Banken, Geldaufnahme am Interbankenmarkt, Fremdkapital von Fonds, Versicherungen und anderen institutionellen Investoren, Begebung von Anleihen am offenen Markt, ggf Aufnahme von Eigenkapital, und in letzter Instanz auch Aufnahme von Kredit bei der Zentralbank soweit diese solchen anbietet.

Der größere, langfristige Teil des Geldmengenzuwachses kann und sollte als originäre Seigniorage herausgegeben und durch Staatsausgaben, ggf auch als Pro-Kopf-Ausschüttung durch das Finanzamt, in Umlauf gebracht werden. Der kleinere, kurzfristige Teil kann direkt an die Banken verliehen werden und erbringt so weiterhin Zins-Seigniorage. Die Aufgabe der Zentralbank besteht dabei darin, mit einem gewissen zeitlichen Vorlauf so viel Geld in Umlauf zu bringen, wie sie ihren gesetzlichen und selbst spezifizierten Zielen gemäß für erforderlich hält, und diese Geldmenge anhand von Marktindikatoren und mithilfe ihrer geldpolitischen Instrumente fortlaufend zu justieren.

Alles das kann, ja muss, auf flexible und diskretionäre Weise geschehen. Die Banken werden keine Probleme haben, mit den neuen Bedingungen zurecht zu kommen. Öffentliche und private Haushalte, kleine Unternehmen ebenso wie große Industrie- und Finanzkorporationen müssen ihre Finanzen und laufenden Ausgaben selbstverständlich einigermaßen umsichtig planen – was grundsätzlich kein Problem darstellt. Ein analoger Vorgang bei den Banken ist das heutige Bargeldmanagement. Man hat nie gehört, die Banken hätten Mühe, die richtige Menge Bargeld vorzuhalten bzw zeitnah verfügbar zu machen, um ihre Kassen und Geldautomaten damit zu bestücken. Das ist ein gut geführtes funktionierendes System. Mit unbarem Geld (Kontogeld, dem heutigen Giralgeld) ist es im Vergleich noch erheblich einfacher, Geld aufzunehmen und zu transferieren.

Nur müssen alle Bankengeschäfte zu 100% finanziert sein, wie eben heute das Bargeld. Wegen der im Vergleich zu Giralgeld teureren Refinanzierung und wegen des hohen Verwaltungsaufwands wären die Banken das Bargeld lieber heute als morgen los. Warum nicht. Aber die volle Finanzierung kann man ihnen nicht ersparen. Die 100%-Finanzierung von Bargeld muss ergänzt oder ersetzt werden durch die 100%-Finanzierung von Kontogeld und E-Geld. In einer Vollgeldordnung sind Banken freie marktwirtschaftliche Unternehmen, nur haben sie nicht mehr das Privileg, selbst auch noch das Geld zu schöpfen auf dessen Grundlage sie tätig sind.

Fazit
Im Vorangehenden wurde gezeigt, dass es möglich ist, Vollgeld im Rahmen eines 100%-Reservesystems nachzubilden. Zugleich wurde allerdings deutlich, dass eine solche Emulation keine einfache Sache ist. Es ist in der Tat kompliziert und erfordert einen nicht unbeträchtlichen finanziellen, rechtlichen und technischen Aufwand:

- Die Mindestreserve von 1% auf 100% anzuheben, bringt erhebliche Kosten mit sich zusätzlich zu den Habenzinsen, die Banken auf Kundeneinlagen ohnehin zahlen. Um die zusätzlichen Kosten das zu vermeiden, müsste die Zentralbank die 100%-Reserve auf Giroguthaben den Banken kostenlos oder fast kostenlos zur Verfügung stellen. Dies wird umstritten sein.

- Reserven auf dem Zentralbankkonto einer Bank gehören dieser Bank, bei einem Zugriffsvorbehalt seitens der Zentralbank. Das Eigentum an Einlagereserven den Kunden einer Bank zuzuschreiben, dürfte schwierige Rechtsfragen aufwerfen, falls es überhaupt möglich ist. Die neue Rechtslage betreffend Bankenabwicklung behandelt Kunden als Gläubiger der Banken, nicht als anteilige Eigentümer von Reserven, und weist damit in die entgegengesetzte Richtung.

- Die Synchronisierung von Giroguthaben und 100% Einlagereserven in einem lückenlosen Echtzeitprozess erscheint grundsätzlich machbar, würde aber aufwendige buchungs- und zahlungstechnische Maßnahmen mit sich bringen, im besonderen bezüglich der Echtzeit-Kopplung der betreffenden Komponenten der Rechnungssysteme der Banken und des Zahlungssystems der Zentralbank. Das wiederum dürfte Abgrenzungsfragen zwischen beiden aufwerfen. 

In Anbetracht dieser Sachlage ist es letztlich einfacher, das Reservesystem mit gesplittetem Kreislauf überhaupt aufzugeben zugunsten eines echten Vollgeldsystems mit einheitlichem Geldkreislauf. Keine Reserven mehr, keine zusätzlichen Finanzierungskosten, eindeutiges Eigentum am Geld, keine komplizierte Synchronisierung von Giroguthaben und Einlagereserven; nur noch eine integrierte Geldmenge M, die bei Banken und Nichtbanken in gleicher Weise als liquides Aktivum zirkuliert. Wenn es eine Barriere für den Übergang von Giralgeld zu Vollgeld gibt, so liegt diese wohl mehr in festgefügten Denk- und Verfahrensroutinen als in echten bankbetrieblichen und zahlungstechnischen Hindernissen.

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