Real- und Finanzwirtschaft, oder
Die Hemisphären der Finanzwirtschaft:
BIP-Finanzen und Nicht-BIP-Finanzen
Die Finanzwirtschaft gliedert sich in zwei Bereiche, einen, der zur Finanzierung der Realwirtschaft beiträgt, während der andere dies nicht tut, indem er selbstbezüglich mit Finanzkontrakten handelt, kurz: BIP-Finanzen und Nicht-BIP-Finanzen. Zu den BIP-Finanzen gehören zum Beispiel Kredite für realwirtschaftliche Ausgaben und Investitionen, das Eigen- und Fremdkapital von Firmen, sowie Steuern, Sozialabgaben und Staatsanleihen zur Finanzierung öffentlicher Ausgaben. Zu den Nicht-BIP-Finanzen zählen u.a. der Sekundärhandel mit Aktien, Anleihen und anderen Wertpapieren, Immobilienhandel als Kapitalanlage, der Großteil des Derivate- und Devisenhandels. Ein gelegentlicher Doppelcharakter von Finanzgeschäften ändert nichts an der betreffenden funktionalen Verschiedenheit.
Seit um 1980 hat sich eine globale Finanzialisierung entfaltet. Das Wachstum der Nicht-BIP-Finanzen stieg um ein Mehrfaches über das nominale BIP-Wachstum hinaus. Dabei spielten neue IT und Verbriefungsmethoden eine Rolle, mehr noch aber die Ausweitung der Geldmengen – erstens die systemisch dominante Giralgelderzeugung der Banken, zweitens das Basisgeld der Zentralbanken, mit dem sich die Banken zum Bruchteil refinanzieren, sowie drittens neue Geldsurrogate wie Geldmarktfonds-Anteile, teils auch schon E-Geld und Stablecoins. Das Giralgeldregime der Banken blieb lange der verkannte Faktor hinter der massiven Ausweitung der Nicht-BIP-Finanzen und damit einher gehender Probleme.
Die stark ausgeweitete Geldverwendung für Nicht-BIP-Finanzen muss nicht zu Lasten der Realwirtschaft gehen, sowenig wie staatliche Geldaufnahme zu Lasten des privaten Sektors (Crowding-out Hypothese). Denn modernes Fiatgeld kann von Banken und Zentralbanken, teils auch Schattenbanken, frei geschaffen werden, zwar unter bestimmten Voraussetzungen und Regeln, im Prinzip gleichwohl in jeder nachgefragten bzw angebotenen Menge.
Das Problem ist also weniger ein Mangel an BIP-Finanzen als vielmehr: zu viel Nicht-BIP-Finanzen. Sie haben zurückliegend den größten Teil des Geldes bzw Kredits absorbiert, und Geld, das einmal in Nicht-BIP-Finanzen angelegt ist, bleibt auf Dauer überwiegend in dieser Hemisphäre. Auch das Geld, das zunächst in BIP-Finanzen fließt, zirkuliert auf Dauer nur zum Teil in der Realwirtschaft, während der andere Teil in die Nicht-BIP-Hemisphäre abfließt.
Das gilt auch für Staatsausgaben, die durch herkömmliches Deficit spending finanziert werden, oder durch dessen heutige Fortsetzung in Form indirekter monetärer Staatsfinanzierung (Quantitative Easing als Aufkauf von Staatsanleihen durch die Zentralbanken). Die Staatsausgaben mögen zunächst der Realwirtschaft dienen, aber nach und nach wandern auch diese Mittel in die Nicht-BIP-Finanzwirtschaft. Dies gilt umso mehr, wenn im Fall einer Finanzkrise die Zentralbanken von sich aus zusätzliche Reserven (Zentralbankgeld) für die Banken zur Stützung des gesamten Finanzsektors bereit stellen.
Das Überangebot an Geld bzw Kapital, soweit es als Fremdkapital aufgenommen wird, bewirkt die seit Jahrzehnten bestehende Tendenz zu fallenden Zinsen und – nicht nur, aber auch deswegen – niedriger Verbraucherpreisinflation. In scheinbar paradoxer Weise dienen die niedrigen Zinsen aber weniger der Realwirtschaft als vielmehr den Nicht-BIP-Finanzen. Statt Inflation bewirkt der Geldüberhang in hohem Maß Assetinflation, d.h. einen starken Niveauanstieg der Vermögenspreise und eine Mengenausweitung von Wertpapieren und anderen Finanzkontrakten. Eine Selbstbegrenzung der Finanzmärkte i.S. der Gleichgewichtsökonomik findet nicht statt. Stattdessen kommt es, durch positive Feedback-Schleifen, wiederkehrend zu Überinvestment und Überschuldung, einem teils sektoralen, teils gesamtsystemischen Überschreiten jeweils gegebener Grenzen der finanziellen Tragekapazität, und damit zu Finanzkrisen.
Die überproportional steigenden Nicht-BIP-Finanzen und die Finanzkrisen sind nicht neutral. Finanzkrisen bedeuten fast immer auch Konjunktur- und Wirtschaftskrisen. Mehr als dass diese einem produktiven Strukturwandel dienen, bewirken sie eine kontraproduktive Vernichtung von Sach- und Humankapital, zu schweigen von den sozialen und politischen Spaltungsfolgen. Letztere ergeben sich schon daraus, dass Nicht-BIP-Finanzeinkommen die gleiche Kaufkraft wie Arbeitseinkommen verleihen, und damit einen unmittelbaren Zugriff auch auf das BIP. Die Nicht-BIP-Finanzen spreizen die Einkommens- und Preisrelationen nach oben auf, mit der Folge zunehmender Einkommens- und Vermögensungleichheit. Ein großer Teil der Arbeitseinkommen wird von den Finanzeinkommen abgehängt – prototypisch zutage tretend bei Wohneigentum und Mieten, aber auch allen anderen Waren- und Serviceangeboten, nach denen sich mehr als bisher wieder Status und Lebensstil bestimmen.
Was tun? Nicht-BIP-Finanzen dienen der Bildung von Ersparnissen, Rücklagen, Eigenkapital, Geld- und Finanzvermögen, also im Grunde etwas Nützlichem und Wünschenswertem. Von daher geht es nicht darum, Nicht-BIP-Finanzen schlecht zu reden, wohl aber das, was tatsächlich Probleme bereitet, nämlich ihr maßloses Überschießen, einzudämmen.
Geldpolitisch bedarf es dazu erst einmal einer wirksamen Transmission der Zentralbank-Steuerungsimpulse. Eine Transmission erfolgt umso mehr, je mehr Zentralbankgeld (Vollgeld) als Mengenhebel in Umlauf ist. Eine besondere Rolle kommt dabei der Einführung und weiten Verbreitung von digitalem Zentralbankgeld zu, einem digitalen Euro, in Ergänzung des stofflichen Bargelds sowie in Wettbewerb zum Bankengeld. Eine komplette Vollgeldreform mit Beendigung des Giralgeldprivilegs der Banken erscheint realpolitisch gegenwärtig unwahrscheinlich. Ungeachtet dessen bedarf das gesetzliche Mandat der Zentralbanken einer Präzisierung und Ergänzung ihrer Aufgaben, Zielgrößen und Instrumente – unter Beibehaltung der getrennten Zuständigkeit für Geldpolitik (Zentralbank) und Fiskalpolitik (Regierung und Parlament).
Zu geeigneten weiteren Instrumenten der Finanzmarktpolitik gehören u.a. der aufkommensneutrale Ausbau einer Finanz-Transaktionssteuer im systematischen Rahmen aller Umsatzsteuern, sodann Haltefristen für eingegangene Positionen (differenziert befristete Haltegebote), sowie gestufte Zinsen für realwirtschaftliche Finanzierungen zum einen und Nicht-BIP-Finanzen zum anderen. Von fiskalischer Seite sollte die Einkommenssteuer restrukturiert werden. Die Aussetzung der Vermögenssteuer in Deutschland sollte beendet werden. Die Erbschaftssteuer sollte Betriebsvermögen und selbst genutztes Wohneigentum verschonen, dafür aber Nicht-BIP-Finanzvermögen stärker besteuern.
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Das Papier mit Zusammenfassung
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