Negativzins - das Wundermittel das keins ist

Die untere Nul­lzins­grenze und das Konzept des Negativ­zinses

Im Finanzkrisenjahr 2008 wurde der kurzfristige Basiszins der Zentralbanken in Amerika und Europa auf 0% oder nahe null herabgesetzt. Damit wurde die natürliche untere Zinsgrenze erreicht (zero lower bound). Auch die langfristigen Zinsen für Staatsanleihen erreichten bald 0–1,5% und wurden später teilweise mit negativer Rendite angeboten. Dies war das Ende eines anhaltenden Zinsrückgangs, der um 1980 bei 15% begann. Da Zinsen an einem Markt von sich aus nicht unter die untere Nullzinsgrenze rutschen, gab es ab da für her­kömm­liche Zinspolitik keinen Spielraum mehr. Diese Situation war neu. Nie zuvor war das Zins­niveau so weit gefallen. Selbst am bis dahin tiefsten Punkt, in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, lagen die Zinssätze der US Federal Reserve über 2%.

An der unteren Nullzinsgrenze können die Zentralbanken nicht wie gewohnt weiter­machen, das heißt, ihren Basiszins senken, wenn das allge­meine Niveau der Zinsen und Preise zurückgeht, und den Basiszins anheben, wenn das allge­meine Zins­niveau steigt. Im fort­ge­schrittenen Stadium einer Aufwärts­­bewe­g­ung soll das dämpfend wirken auf die Giral­geld­schöpfung der Banken, damit auch auf die Kredit­aus­weitung der nicht-monetären Finanz­institute, um so wirtschaftlicher 'Überhitzung' und einer uner­wünscht hohe Verbraucherpreis-Inflation (VPI) entgegen zu wirken. Umgekehrt soll eine Ver­rin­ge­rung des Basiszinses die Geldschöpfung und Kredit- bzw Schuldenaufnahme erleich­tern, um so zu einem wirt­schaft­lichen Aufschwung und einer VPI in erwünschter Höhe beizutragen. Im allge­mei­nen wird die angepeilte Inflationsrate heute bei 2–3% gesetzt.

Dieser Logik zufolge erscheint die untere Nullzinsgrenze als Ärgernis, gar als 'monetäre Paralyse'.[1] Die untere Nullzinsgrenze wird nicht als die natürliche Grenze akzeptiert, die sie ist. Vielmehr wird sie als zu überwindendes Hindernis gesehen und einige Öko­no­men haben den passenden Vorschlag parat: Durchbrechen der unteren Zins­grenze durch künstliche Auferlegung eines negativen Zinssatzes auf Geldbesitz, auch 'Minuszins' genannt.[2] Wörtlich genommen heißt das, dass ein Gläubiger einem Schuldner Zins zu zahlen hat statt umgekehrt der Schuldner dem Gläubiger. Im Fall von Guthaben auf einem Bankkonto – kurz Bankengeld – wird das so ausgelegt, dass auf einen positiven Kontostand eine Abgabe an die kontoführende Bank zu zahlen ist, statt dass die Bank dem Kontoinhaber Habenzins zahlt.

Die Frage ob es sich beim Negativzins wirklich um einen Zins handelt, und wenn nicht, um was dann – administrierter Kaufkraftschwund, eine Bank­gebühr (Verwahrentgelt), oder quasi eine unrechtmäßige Geldsteuer, oder eine Sonderabgabe zum Ausgleich schwindender Zinsmargen – diese Fragen werden in den späteren Abschnitten dieses Papers behandelt.

Um was immer es sich handelt, die Befürworter der Maßnahme versprechen sich davon ein wieder höheres Maß an Wirk­samkeit der herkömmlichen Zinspolitik. Der Schwund auf dem Kontostand werde die Geldbesitzer dazu bewegen, das Geld lieber auszugeben als es schwinden zu sehen. Das wiederum würde ein Nachfrage-indu­zier­tes Wachstum bewirken, das disinflationären oder gar deflationären Tendenzen ent­gegen­wirkt und so zum Normalbetrieb positiver Zinsen zurück führt. Wie im folgenden erläutert, erfüllen sich solche Erwartungen in keiner Weise. Statt­dessen erweist sich die Kopfgeburt Negativzins als kontraproduktiv.  

Erhebung von Negativzins

Den Negativzins erhebt die EZB von den Banken, und immer mehr Banken verlangen ihn von ihren Kunden. Der Abgabesatz betrug Mitte 2021 0,5% p.a., herunter gebrochen auf den täg­lich­en Kontostand über Nacht. Der Negativzins wird auf laufende Giroguthaben erhoben und je nach Bank auch auf Termin- und Spar­ein­lagen. Zunächst waren nur Geschäfts­kunden betroffen mit Kontoguthaben in Höhe von mehr als 100, 250 oder 500 Tausend Euro. Inzwischen greifen immer mehr Banken auch auf Privatguthaben jeder Höhe zu. Im Juli 2021 haben 372 Banken Negtivzins erhoben, mehr als doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Laufend kündigen weitere Banken an, dem zu folgen.[3]

Die Schwedische Reichsbank war 2009 die erste, die Reserven-Guthaben von Banken bei der Reichsbank mit einem Negativzins von -0,25% belegte. Die EZB führte einen Negativzins auf liquide Guthaben von Banken bei ihr (Überschussreserven) ab 2012 ein, schritt­weise steigend bis auf heute 0,5%. Die Zentralbanken von Dänemark, der Schweiz und Japan taten desgleichen. Der Beweggrund für die Schweizer lag darin, der unerwünschten Aufwertung des Franken entgegen zu wirken. Die Dänen wollten damit die Bindung der Krone an den Euro ver­tei­digen.[4] Dagegen haben sich die Vereinigten Staaten und Großbritannien kluger­weise gegen einen Negativzins entschieden.

Bargeld, das lästige Überbleibsel

Der offensichtlichste Haken am Vorschlag von Negativzinsen ist das noch existierende Bargeld. Negativzins auf Münzen ist praktisch unmöglich, und auf Noten unver­hält­nis­mäßig aufwendig. Nach Gesell (1916), auf den die Idee des künst­lichen Geld­schwunds (wört­lich 'Schwund­geld') zurückgeht, sollten Banknoten periodisch um 6 Prozent p.a. abgewertet werden. Um den Schwund auszugleichen, sollte man Wertmarken gleicher Höhe kaufen, die auf die Note zu kleben waren. Andernfalls wäre der Geldschein nicht mehr gültig.[5] Heute wie damals wäre das nur mit erheblichem Aufwand umsetz­bar.

Auf Konto­gut­haben dagegen lässt sich ein pro­zen­tualer Geldwert­schwund viel besser erheben. Allerdings, bei Auf­erlegung eines spürbar hohen Negativ­zinses hätte dies zur Folge, dass die Leute versuchen, dem dadurch auszu­wei­ch­en, dass sie ihr Geld bar hal­ten. Unter den heutigen Bedingungen, wo das aktiv benutzte Bar­geld im Euroraum nur noch um die 5% der Geldmenge ausmacht, wäre das nicht darstellbar bzw es wür­de auf einen Bankrun hinaus­laufen – einen Kreis­lauf­zusam­men­bruch mangels genügend Bargeld, der dem beste­hen­den System frak­tio­na­len Reser­ve­bankings immanent ist und den man nicht mutwillig herbei­führen möchte.

Von daher fordern Befürworter eines Negativzinses auch die Abschaffung von Bargeld. Dessen Nutzung unterliegt ohnehin zunehmenden Einschränkungen. Große Geld­scheine werden aus dem Verkehr gezogen. Das Publikum bezahlt von sich aus nur noch geringe Summen in bar, alles andere unbar. Selbst bei kleineren Summen verlan­gen viele private ebenso wie alle öffentlichen Stellen bargeldlose Bezahlung. Das Verschwinden des Bargelds ist absehbar, zieht sich aber hin.

Die liquide Geldmenge im Publikumsgebrauch (M1) besteht inzwischen zu 90% aus Giralgeld und 10% Bargeld. Von diesem Rest Bargeld läuft der größere Teil nicht einmal um, sondern wird als Sicherheitspolster aufbewahrt oder kursiert als Parallel­währung im Ausland.[6] In dieser Situation würden es längst auch die Banken gut heißen, wenn das Bargeld verschwände. Die Finanzierung und Handhabung von Bar­geld ist für die Banken viel teurer als die nur fraktionale Refinan­zier­ung und Hand­habung des Giralgelds. Ohne Bargeld blieben die Leute allein vom Giral­geld der Banken abhängig – was wiederum den Rest an Kon­troll­ein­fluss der Zentral­banken über das Giral­geld vor allem der großen Megabanken umso mehr schwächen müsste. Von daher möchten nicht nur Negativzins-Befürworter, sondern auch die Banken im allgemeinen das Verschwinden des Bargelds nicht länger den Zahlungs­gewohn­heiten der Geldnutzer überlassen.[7]

Als Reaktion auf diese und andere Entwicklungen haben sowohl Vollgeldreformer als auch Zentralbanken Konzepte entwickelt, digitales Zentralbankgeld in den Publi­kums­verkehr ein­zu­führen, sei es als Kontogeld oder auch als digitale Tokens, als Äquivalent für die schwindende Basis an Bargeld (Central Bank Digital Currency, kurz CBDC). Zu den Vorreitern gehörten die CBDC-Modelle der Bank von England und der Schwedi­sch­en Reichs­bank.[8] Zugleich passen diese ansonsten will­kom­men­en Konzepte ohne weiteres auch zum Vorhaben, Negativzins allgemein auferlegen zu können.[9] Eine Studie des IWF stellt ausdrücklich fest, dass digitales Zentralbankgeld 'die faktische untere Nullzinsgrenze der Geldpolitik elimi­nie­ren würde'.[10]

Als Alternative zur abrupten Abschaffung des Bargelds versucht ein anderer Ansatz, Bargeld vom Giralgeld zu 'entkoppeln' und damit Bargeld als eine Art 'Parallelwährung' zu behandeln.[11] Die Sache so darzulegen, ist jedoch irreführend. Den Autoren geht es nicht um 'Entkopplung', sondern um 'Ankopplung' des Bargelds an das Giralgeld unter Negativzins-Bedingungen. Es geht also nicht darum, die 1:1 Parität zwischen Bargeld und Giralgeld aufzugeben, sondern vielmehr sie auch bei Negativzins aufrecht zu erhalten durch Erhebung einer Um­tausch­ab­gabe (conversion rate of cash [CRC]), faktisch einer Strafgebühr für Bargeldnutzung. Die Strafgebühr würde fällig, wenn Bargeld von einem Konto abgehoben wird.          

Warum Negativzins nicht bewirkt was man sich davon verspricht

Zentralbanken haben Möglichkeiten, eine stockende Wirtschaft wieder in Fahrt zu bringen, und zwar nicht nur Banken und Nicht-BIP Finanzen, sondern auch BIP-Finanzen und die Realwirtschaft. Zum Beispiel haben die massiven Aufkäufe von Staatsanleihen durch die Zentralbanken zwar ein monetäres Überhangsproblem geschaffen, aber wirksam Staatsausgaben und Gesamtkonjunktur stabilisiert. Ein anderes Beispiel ist das TLTRO Programm (Targeted Longer-Term Re­fi­nan­­cing Operations) der EZB. Es dient der direkten Förderung realwirtschaftlicher Kapital­aus­gaben und beläuft sich bisher auf ein Gesamtvolumen von nahezu 1,5 Billi­onen Euro, und das zu einem Niedrigst- oder faktisch sogar Nullzins. Das hat zweifel­los geholfen.

Was aber Negativzinsen angeht, bleibt es sowohl bezüglich der Banken und Finanz­wirt­schaft als auch der Realwirtschaft völlig unklar, weshalb Negativzinsen eine Antwort auf die Probleme suboptimaler real­wirt­schaft­licher Kapazitätsauslastung und einer bisher eher disinflationären als refla­tio­nären Gesamttendenz sein sollten. Selbst wenn es einen wirksamen Trans­­­missions­­­mecha­­­nis­­mus der Zinspolitik gäbe und die Banken ihren Kunden viel höhere Negativ­zinsen abverlangen könnten, wieso sollte ausge­rech­net ein spürbarer Kauf­kraft­verlust ein Anreiz für Firmen sein, mehr Kapitalausgaben zu tätigen, und für Privat­haushalte, mehr zu konsu­mieren?

Erste Forschungsbefunde
Frühe Studien zur Implementierung von Negativzinsen haben Ergebnisse berichtet, die man wissen konnte: die auferlegten Negativzinsen erzielten keine fest­stell­bare Wirkung, weder positive noch negative. Zwei Gründe wurden dafür genannt. Zum einen wurde der Negativzins anfänglich von den betreffenden Zentralbanken den Banken in ihrem Währungsraum auferlegt, weniger jedoch von den Banken ihren Kunden. Tatsächlich gibt es keinen direkten Wirkungszusammenhang zwischen Negativzins auf Zentralbank-Reserven und auf Banken-Giralgeld.[12]

Zum anderen waren die Zinssätze anscheinend zu niedrig, um eine Wirkung hervorzurufen. Höhe­re Zinssätze kamen aus Furcht vor einem Run auf Bargeld mangels Erfahrung noch nicht in Frage. Auch zögerten die Zentralbanken, die Bankbilanzen zu sehr zu belasten.[13] Die Banken ihrerseits äußerten Bedenken, der Wettbewerb mache es schwierig, den Negativzins auf die Kunden abzuwälzen.[14] Inzwischen scheint sich das kooperative Bankenprinzip durchzusetzen, dass etwas machbar ist – sei es Kredit ausstellen bzw Giralgeld schöpfen, oder eben Negativzins abschöpfen – wenn alle es so machen.

Unterm Strich hat die Sache ökonomisch nichts gebracht. Den betreffenden Zentral­banken hat es freilich Gewinne auf Kosten der Banken eingebracht[15] – während immer mehr Ban­ken, je breiter die Basis wird, auf der sie Negativzins erheben, ihren Kunden mehr Geld abnehmen als die Zentralbank den Banken abverlangt. Dazu noch später.

Ausweichverhalten I – Unruhe und Unkosten erzeugende Banken-wechsel
Bei Negativzinsen um -0,5% sowie einer nach Kontostand gestuften und auch noch nicht flächendeckenden Auferlegung der Abgabe hat diese bisher noch keine allzu großen Verwerfungen hervorgerufen. Dennoch ist die Sache zu einem ständigen Presse­thema geworden, da eine kostenträchtige Unruhe dadurch entstanden ist, dass betrof­fene Kunden ihre Bankguthaben, oder zumindest den größeren Teil davon, zu Banken umschichten, die noch keine Negativzinsen verlangen. Der publizierte Unmut über Negativzinsen sowie diesbezügliche Klagen von Ver­braucher­schutz­ver­bänden vor Gericht haben ebenfalls zugenommen.

Zugleich hört man öfter von Banken, die Neuzugänge von Kunden abweisen, beson­ders Negativ­zins-Flüchtige. Dass man bei einer Bank mit seinem Geld nicht willkommen ist, klingt nach verkehrter Welt – was es auch ist. Durch Neukunden und deren lau­fen­de Zahlungs­­­ein­gänge fließen den Banken Reserven in gleicher Höhe zu. Unter Normal­­bedin­gungen waren das willkommene Finanzierungsmittel für die Banken. Inzwischen aber, durch die massiven Offenmarkt-Wertpapierkäufe der Zentralbanken (Quanti­ta­tive Easing), welche die Zentralbanken mit Reserven bezahlen, sind die Ban­ken mit Überschussreserven geradezu überflutet worden, und zwar in einer Höhe, welche die Banken nicht sinnvoll verwenden kön­nen. Gleichwohl müssen die Banken darauf Nega­tiv­zins an die EZB zahlen und außerdem Mindestreserven in vorgeschriebenem Umfang halten. Soweit die Banken die ihnen zugeflossene Reserven­schwem­me nicht rentierlich anlegen können, während diese Reserven Negativzins- und Mindestreserven-pflichtig sind, bringt das den Banken nur Kosten, aber keine Erlöse.

Ausweichverhalten II – Kapitalanlagen
Banken raten ihren Kunden, den Negativzins dadurch zu umgehen, dass sie Kapitalanlagen tätigen, das heißt aktuell vor allem, Immobilien als Finanzanlage, Aktien, ETFs, Geldmarktfonds und Investmentfonds verschiedenster Art. Derlei ist erst einmal plausibel, und es gilt sinn­ge­mäß auch für die Banken gegenüber der Zentralbank. Nur ist eine solche Bildung von Finanzkapital nicht ganz unproblematisch, ja, gesamt­­wirt­schaft­lich und sozial möglicherweise unerwünscht.

Im Bedarfsfall können Kapitalanlagen nicht rasch, oder nur zu gerade ungünstigen Kursen liquidierbar sein. Die Extranachfrage nach Wert­papieren, deren bloßer Handel nicht zur Finan­zier­ung der Realwirtschaft beiträgt, fördert Assetinflation und Blasenbildung, und damit Instabilität und Krisenneigung. Auf Dauer kommt es dabei außerdem zu einer rela­ti­ven Steigerung der Finanzeinkommen gegenüber den Arbeits­ein­kommen und also einer zunehmende Einkommens- und Vermögensungleichheit. 

Außerdem ist die Negativzins-Flucht im Gesamtzusammenhang eine Illusion. Die Flucht kann letztlich nicht gelingen. Das Bankengeld der Kunden und die Überschussreserven der Banken verschwinden ja nicht, wenn damit etwas gekauft wird. Lediglich wechselt das Geld seine Besitzer und bleibt damit zu jedem Zeitpunkt wo hängen. Das gilt für Geschäfts­kunden vielleicht mehr als für Privatpersonen, und besonders gilt es für die Reserven bei den Banken.

Das gesamte Giralgeldregime auf Basis fraktionaler Reserven beruht darauf, dass ausgehende und eingehende Zahlungen bei allen Banken in etwa einander ent­spre­chen und dass dennoch auftretende Zahlungs­ver­kehrs-Defizite per Geld­markt­kredit beglichen werden können. Anders gesagt, die Reserven, die Banken aus­geben, kommen auf ver­schie­dens­ten Wegen recht schnell auf ihr Zentralbankkonto zurück. Je größer die Bank, desto mehr ist dies der Fall.

Der zumeist vergebliche Versuch der Banken, ihren Reservenbestand durch Finanz­anlagen abzubauen, war bereits bei den oben zitierten frühen Studien zum Thema deutlich geworden. Die Reserven würden nur dann, und auch dann nur vorübergehend verschwinden, wenn die Zentralbank die von ihr gehaltenen Wertpapiere an die Banken verkauft. Bei Fälligkeit der Papiere aber würde der Gegenwert erneut in Reserven an die Banken zurückfließen.     

Ausweichverhalten III – Geld schneller ausgeben (ohne deshalb mehr auszugeben)
Ein weiterer Versuch Negativzins zu umgehen besteht darin, das Geld schneller auszugeben, ähnlich der Jahresend-Ausgabenpanik in öffent­lichen Haushalten, die Guthaben nicht ins nächste Jahr übertragen dürfen. Mehr Geld wird deshalb noch nicht ausgegeben, sodass sich daraus auch kein Wachstums-, Preis- und Zinsauftrieb ergibt. Erwart­un­gen, das schnel­lere Geld­aus­geben würde öfteres Geld­aus­geben mit sich bringen, also den Geldumlauf steigern, bleiben vage. Die Umlauf­geschwin­dig­keit bzw Nutzungs­häufig­keit des Geldes ist stabil und ändert sich nur langfristig im Zuge tech­nischer Neue­run­gen, ökono­mischen Struktur­wandels und sozialer Ver­hal­tens­ände­rungen.

Kompensatorisches Verhalten – Weniger Geld ausgeben, mehr sparen
Statt Geld schneller aus­zu­geben, ist es ebenso wahrscheinlich, dass Negativzins bei vielen Menschen das Gegen­teil bewirkt, nämlich dass sie kompensatorisch zusätzliche Sparanstrengungen unter­nehmen (außer unter Bedingungen galoppierender Inflation). Die zusätz­lich­en Er­spar­nisse ruhen als stillgelegtes Bankengeld auf Spar- und Termin­konten, oder sie werden in Nicht-BIP-Finanzen angelegt. Beides ist der Real­wirt­schaft abträglich.

In den 1960–70ern bewegte sich die VPI in vielen Ländern im zwei­stel­li­gen Bereich. Haben sich die Leute deshalb beeilt, ihr Geld auszugeben? Nein. Stattdessen haben sie bzw ihre Gewerkschaften höhere Löhne und Ausbau der Sozial­leistungen ver­langt. Es war die Zeit der Lohn-Preis-Spirale. Weniger Kaufkraft zu erfahren, bedeutet für Firmen ebenso wie Haushalte nun einmal, höhere Einkommen anzustreben oder aber Ausgaben einzusparen.   

Das missverstandene Notgeld von Wörgl – Der angebliche Erfolgsnachweis für Negativzinsen

Einige Befürworter von Negativzinsen berufen sich ausdrücklich auf Silvio Gesell's Schwundgeldkonzept und das 'Wunder von Wörgl' 1932.[16] Gesell dachte in den Kategorien einer Bargeldwirtschaft, das Bargeld sicherlich als frei schöpfbares Fiatgeld ('Freigeld'), aber dennoch Bargeld. Die Kredittheorie des Geldes aus den 1890ern und die Wahr­neh­mung des aufsteigenden Giralgeldregimes der Banken waren bei ihm noch nicht angekommen. Geld besitzen war ihm beinahe gleich­be­deu­tend mit Geld horten. Die Sache inspirierte Keynes zu seinen Begriffen der Liquiditätspräferenz und der Liquiditätsfalle. Damit Geld nicht ruhe, sondern seine wirtschaftliche Umlauf­funktion erfülle ('Taler Taler du musst wandern von der einen Hand zur andern'), hielt Gesell einen Geldschwund von 6% jährlich für angemessen. Sparguthaben wollte er als Bargeld zum Weiterverleihen davon ausnehmen.

Man mag Gesell in seiner Zeit gerade noch zugute halten, dass in den früheren Zeiten des Gold- und Silbergelds das Horten solchen Münz­geldes stets ein ernstes Problem war. Mit dem modernen Fiatgeld jedoch, das im Prinzip in jedem benötigten Umfang geschaffen werden kann, ist das Hortungsproblem im wesentlichen gegenstandslos geworden. Auch das abgeleitete Keynes’sche Konzept der Liquiditätspräferenz und Liquiditätsfalle relativiert sich entsprechend. Die meisten Menschen sitzen nicht in einer Liquidi­täts­falle, sondern sind froh, wenn das Einkommen bis Monatsende reicht. Die Wohl­haben­den wiederum sitzen nicht auf Geld, sondern auf Kapital, i.d.R. Finanzvermögen und Immobilien. Wenn diejenigen, die über Kapitalausgaben ent­scheiden, investieren wollen, nehmen sie Kredit auf, den Banken und Schatten­banken in Form von Giralgeld gerne bereitstellen.

Der wohl bekannteste Testfall des Gesell’schen Schwundgeld-Konzepts fand 1932 während der Großen Depres­sion in Wörgl statt, einer Kleinstadt in Tirol. Nachdem zwei Fabriken schließen mussten und die Arbeitslosigkeit im Ort 30% erreicht hatte, ent­schloss sich der Bürgermeister 5.000 Schillinge als kommunales Notgeld in Umlauf zu geben. Die eigens entworfenen Papiernoten lauteten nicht auf Schilling, sondern wurden Arbeits­wert­scheine genannt, jedoch in 1:1 Parität zum Schilling. Lokales Not­geld wurde damals auch in vielen anderen Städten in Deutschland und Österreich aus­ge­geben. Die Besonderheit der Wörgler Papierscheine bestand darin, dass sie einem geplanten Wertschwund von 12% jährlich unterlagen, 1% am Ende jeden Monats. 

Das Notgeld kam durch lokale Arbeitsbeschaffungs­maß­nahmen in Umlauf. Anfängliche Akzeptanzprobleme seitens örtlicher Kleinbetriebe (Gasthäuser, Kaufläden, Hand­werker) wurden bald überwunden. Die Initiative wurde ein Erfolg. Die lokale Wirtschaft erholte sich ein Stück weit. Man nahm diese Entwicklung als ein kleines Wirt­schafts­wunder wahr.[17] Aber nach nur einem Jahr wurde das Wörgler Notgeld, wie auch das Not­geld der anderen Städte, von der Österreichischen Natio­nal­bank und der Deutschen Reichs­bank verboten. Das verschlimmerte die wirtschaftliche Lage in unnötiger Weise zusätzlich, zumal in Kombination mit dem verstockten Festhalten an der Goldbindung der Währung, die man in etlichen anderen Ländern zu diesem Zeit­punkt längst hatte fallen lassen. So wurde die Herausgabe zusätzlichen Geldes aus­ge­rechnet zu dem Zeitpunkt verweigert, wo es das einzig Richtige gewesen wäre statt der Bevölkerung einen verheerenden Austeritätskurs aufzuzwingen – eine entscheidende Ursache des nachfolgenden Austrofaschismus und Bürgerkriegs in Österreich und des Durch­bruchs der Nazis zur Machtübernahme im Deutschen Reich.

Für Gläubige ist die Schwundgeldepisode von Wörgl der unzweifelhafte Beweis für die Richtigkeit des Konzepts. Tatsächlich aber handelte es sich beim 'Wunder von Wörgl' keineswegs um ein Wunder. Der entscheidende Punkt war, dass im Prinzip alles Nötige vorhanden war – qualifiziertes Personal, Ressourcen, Maschinen, technische und administrative Infrastrukturen – nur eben kein Geld. Die Leute bekamen wieder Geld, und das war schon der ganze Trick, damit konnte die Wirtschaft wieder laufen. Ohne den monatlichen 1% Negativzins wäre dies Sache ebenso gut oder sogar noch besser ge­lau­fen. Wie schon gesagt, saß auch in Wörgl nie­mand in der Liquiditätsfalle. Alle waren zufrieden, wieder bezahlte Arbeit zu leisten und wieder kaufen zu können was es zu kaufen gab.

Die Botschaft liegt auf der Hand: Anstatt 'Zinsen' oder einen Geld­schwund zu admi­nis­trieren und so den Menschen Kaufkraft zu entziehen, soll man ihnen mehr Kaufkraft geben, erst recht in einer Krise. Anders als 1929 und danach war dies den Politikern und Zentralbankern 2008 und danach bewusst und sie haben erfreu­licherweise entsprechend gehandelt. Warum dann aber obendrein noch Nega­tiv­zins auferlegen, der diesen Kurs konterkariert (und auf den die US Federal Reserve, die Bank von England und andere wohlweislich verzichtet haben)?

Zur Ambivalenz niedriger Zinsen

Die Frage bleibt, warum die Zinsen seit über einem Jahrzehnt auf dem Niedrig- bis Null­niveau verharrt sind, obwohl die Wirtschaft besser gelaufen ist als zu befürchten war, und warum die künstliche Verlängerung der Niedrig­zinsen in den fiktiven  Negativzins-Bereich doch noch bewirken soll, was schon spektakuläre Null­zinsen nicht bewirkt haben. Der ursächliche strukturelle Grund für das extrem niedrige Zinsniveau liegt in einem Über­hang an Geldschöpfung aus den zurückliegenden Jahrzehnten. Soweit das Geld als Fremdkapital angeboten, aber nicht in diesem hohen Maß nachgefragt wird, drückt dies das Zinsniveau. Wenn das Geld in Nicht-BIP-Finanzen gesteckt wird, bewirkt dies keinen Zinsanstieg, wohl aber Assetinflation (siehe Anhangskapitel). 

Es ist eine allzu schlichte Vorstellung, niedrige Zinsen seien per se gut für die Wirt­schaft, gleichsam je niedriger desto besser. Aus zyklischen Gründen fallen die ZInsen, wenn die Konjunktur schlecht läuft. Wenn dann noch Negativzins die Kauf­kraft mindert statt sie zu meh­ren, wie soll da der 'Kon­junk­turmotor anspringen' und einen entsprechenden Preis- und Zinsauftrieb mit sich bringen? Anstatt Negativzins aufzuerlegen, wäre es zweck­dien­licher, Geld noch mehr als bisher direkt für real­wirt­schaft­liche Zwecke zu schöpfen und die Einkommen in der Breite der Bevöl­kerung anzuheben.   

Der Zins ist gewiss ein entscheidender Faktor im Wirtschaftsgeschehen, aber nicht der alleinige und alles bestimmende. Soweit niedrige Zinsen vielleicht zu Investitionen einladen, fragt sich, zu welcher Art von Investition – in BIP-Finanzen, die in real­wirt­schaft­liches Angebot und Nachfrage fließen, oder in Nicht-BIP-Finanzen, die nicht zum real­wirt­schaflichen Output beitragen, wie der Handel mit Aktien und anderen Wertpapieren, oder der Immo­bilienhandel als Finanzanlage (mit eher geringen Impli­ka­tionen für Bauwirtschaft und Handwerk)?[18]

Im übrigen ist ein konjunkturelles Tief auf hohem Produktivitätsniveau kein Grund zu politisch-ökonomischer Panik und keine Rechtfertigung dafür, Menschen zu nötigen Geld auszugeben das sie gerade nicht ausgeben wollen, oder zugespitzt formuliert, ihnen anzudrohen ihr Geld weg­zu­neh­men wenn sie es nicht sofort ausgeben.

Das tatsächliche Problem heute ist weniger Unterkonsumtion und die real­wirt­schaft­liche Konjunktur als vielmehr die wiederkehrende krisenträchtige 'irrational exu­be­rance' der Nicht-BIP-Finanzen, gespeist von einer geradezu unbegrenzten Geld-, Kredit- und Schulden­aus­weitung – ein systemisches Problem, das man unter Kontrolle bekom­men muss, aber gewiss nicht durch kontra­pro­duktive Negativ­zinsen. Was es heute vor allem braucht, ist die Wieder­gewinnung monetärer Kontrolle und die Fähigkeit, effektive und Output-dienliche Geldpolitik zu betreiben. Dazu kann die Ein­führ­ung und konti­nu­ier­liche Ausbreitung eines digitalen Euro der EZB beitragen, Negativzins dagegen nichts.

Warum 'Negativzins' eine Fehldeklaration ist

Negative Zinsen hat es im Geschäftsleben niemals gegeben. Das auf den Kopf gestellte Gläubiger-Schuldner-Verhältnis stellt eine modell­öko­no­mische Fiktion dar, eine Begriffs­ver­wirrung. Ökonomen, die der Fiktion dennoch Plausi­bi­li­tät verleihen wollen, beziehen sich oft auf das Konzept des 'Realzinses', analog zum Unter­schied zwischen nominalem und realem BIP-Wachstum. Das 'reale' BIP ergibt sich als das nominale BIP abzüglich der Inflationsrate. Analog dazu wird der 'Realzins' (auch 'Effektivzins' genannt) definiert als ein aggre­gier­tes Zinsniveau (Nomi­nal­zins) abzüglich der Inflationsrate. Wenn das Zinsniveau 5 % beträgt und die Infla­tion 3 %, ergibt sich als effektiver 'Zinssatz' 2 %. Wenn beide Ope­ran­den gleich sind, ist der 'Effektivzins' null. Bei einem Zins von 5 % und einer Infla­tion von 6 %, ist der 'Effektivzins' -1 %.

Die Kombination zweier verschiedener Operanden – Einkommen und Inflation – macht Sinn wenn man die nominale-vs-reale Kaufkraft verschiedener Arten von Einkünften betrachtet, zum Beispiel Arbeits­ein­kom­men, Zinsen, Transferzahlungen. Aber deswegen ist der Zinssatz keine Inflationsrate, und das Ergebnis der Rechnung ist weder das eine noch das andere, stattdessen die Ermittlung eines partiellen Kauf­kraft­schwunds. Insofern ist die Bezeichnung 'Realzins' falsch,  und irreführend bezüglich eines negativen Rechen­ergeb­nisses als 'Negativzins'.     

Hinzu kommt, dass Zinszahlungen beim Zahler immer 'negativ' sind, eben eine Aus­gabe. Beim Zinsempfänger aber handelt es sich um eine Einnahme, auch und gerade im Fall von Negativzins. Beträgt die In­fla­tionsrate 3% und der Negativzins -1%, ver­bucht der Zahler einen Kauf­kraft­ver­lust von -4%, der Empfänger dagegen nur einen Kauf­kraft­ver­lust von -2%, weil er 1% Zins ein­nimmt. 

Es bleibt dabei: ein Zins kann allenfalls auf null sinken, aber nicht negativ werden. Auf einem nicht-manipulierten oder nicht-preisadministrierten Markt sind Zinsen immer eine 'positive' Größe, gleich ob diese ins Soll oder ins Haben eingeht. Jemand kann ein höheres oder geringeres Einkommen haben, oder überhaupt kein Einkommen, aber kein negatives Einkommen, allenfalls ein positiv-zahliges Defizit und einen positiv-zahligen Bestand an Schulden. Die Nullzinsgrenze durchbrechen ist möglich in der Welt des Rechnens, die über die wirkliche Welt hinausreicht. In der letzteren zahlen Schuld­ner Zinsen an ihre Gläubiger. Gläubiger zahlen nicht Zinsen an ihre Schuld­ner.

Auch unabhängig vom bisher Gesagten heißt es, sich im Objekt zu vergreifen, wenn Geldguthaben 'verzinst' werden. Zins zahlt man auf einen Kredit im weites­ten Sinn, nicht auf Geldbesitz, weder auf Bargeld noch auf Kontoguthaben. Historisch gesehen hatte es einst seinen Grund, wenn Banken auf ihre damals privaten Banknoten sowie Kontoguthaben einen Habenzins zahlten. Auch nennt man Konto­gut­haben (Giralgeld) heute auch 'Kreditgeld'. Denn die betreffenden Kontoguthaben werden von der Zentralbank bzw den Banken in Aus­zahl­ung eines betreffenden Kredits oder Wert­papier­kaufs geschaffen und dienen ab dann als umlaufende Zahlungsmittel. Jedoch sind die Kredit­summe des zugrunde liegen­den Kreditvertrags einerseits und das als Konto­guthaben bereit gestellte Zahlungsmittel andererseits zwar gleichen Betrags, aber nicht dasselbe. Der Kredit­nehmer hat Zins und Tilgung auf die Kredit­summe zu zahlen. Das in dieser Höhe bereit gestellte Zahlungsmittel aber wird vom Kreditnehmer ausgegeben und zirkuliert dann in einer fortgesetzten Kette von Zahlungen auf­ein­an­der folgender Besitzer dieses Geldes. Diejenigen, denen das Geld jeweils zufließt, haben mit dem originären Kreditvertrag nichts zu tun.  

Wenn überhaupt, so handelt es sich bei einem Bankguthaben um einen  Bar­geld­kredit des Konto-innehabenden Kunden an seine Bank. Statt Auszahlung in bar zu verlangen (d.h. in Zen­tral­bankgeld), zogen die Kunden es mit der Zeit vor, bargeldlos per Bank­en­­geld­über­weisung zu bezahlen. Insoweit war es plausibel, wenn früher Banken auf Konto­gut­haben ihren Kunden einen Habenzins zahlten. Negativzins gab es dabei nie. Wozu auch. Die Sache ist ja dadurch geregelt, dass der originäre Kredit­neh­mer der betreffenden Bank Zins und Tilgung zahlt.

Heute hat sich die Sache mit dem Habenzins schon weitgehend von selbst erledigt. Die  Konto­guthaben der Banken bei der Zentralbank (die Reserven) und die der Nicht­banken bei Banken (das Bankengeld) sind längst genuines Geld eigener Art geworden. Das Bargeld wurde dabei zu einer nachgeordneten und auch nur noch residual vorhan­denen Auswechselmenge für Banken­geld. Bald wird der Anspruch der Kunden auf Auszahlung eines Giroguthabens in Bargeld de facto gegen­stands­los geworden sein. Umso dringender ist die Einführung von digitalen Euros. Zentral­bank­geld wird dadurch endlich auch in unbarer Form dem allge­mei­nen Publikumsgebrauch zugänglich. Einer totalen Dominanz des Bankgengelds wird so vorgebeugt.   

Was aber ist Negativzins wirklich – Strafzins, künstlicher Kaufkraftschwund, Bankgebühr, Kosten­über­wälzung, eine unrechtmäßige Geldsteuer, oder eine ebensolche Son­der­abgabe wegen schwindender Zinserträge?

Strafzins
Wenn Negativzins definitiv kein Zins ist, um was handelt es sich dann? In der Presse findet sich oft der Ausdruck Strafzins. Als Strafe mag man es schon empfinden, wenn einem 'einfach so' Geld abgezwackt wird, weil man es nicht schon ausgegeben hat. Dennoch ist der Ausdruck fehl am Platz. Ein Strafzins ist eine Aus­­gleichs­zahlung für den Fall, dass ein Kunde einen Kredit vorfällig tilgen möchte. Denn dies bedeutet eine Ver­trags­­ände­rung seitens des Kunden zulasten der ursprünglich vereinbarten Zins­zahl­un­gen an die Bank. Ein Zins ist ein solcher Strafzins ebenfalls nicht, wenn auch eine Ersatz­­zahlung für den Zinsausfall.

Davon kann bzgl eines Negativzinses auf Kontoguthaben nicht die Rede sein. Das nur fraktional mit Reserven und Bargeld gedeckte Banken­geld beruht schließlich immer noch auf einem impliziten Bargeldkredit der Kunden an ihre Bank, auf den, wenn schon, die Kunden einen Habenzins beanspruchen könnten. Überhaupt können die Banken froh sein, dass sich die Kundschaft mit der zwangsläufigen Nutzung des Bankengelds abge­funden hat, weil Bargeld schon bei relativ kleinen Beträgen nicht mehr praktibel ist, während Girokonten bei der Zentralbank für das breite Publikum nie verfügbar waren und ein digitaler Euro noch nicht verfügbar ist.    

Künstlicher Kaufkraftschwund, Inflation
Schon das Gesellsche Schwundgeld wurde als administrierter Kaufkraftschwund der Geldscheine angesehen. Da der Erlös aus dem Verkauf der Wertausgleichs-Klebe­mar­ken dem Finanzministerium zufließen sollte, und es alle Geldbesitzer in gleicher Weise betrof­fen hätte, wäre es ebenso zutreffend, darin eine Geld­steuer zu sehen, eine Steuer auf den Besitz von Zentralbanknoten.

Manchmal wird die Auswirkung des Negativzinses auch als künstliche Inflation auf­ge­fasst. Darum handelt es sich jedoch nicht. Durch den Geldschwund wären weder das all­ge­meine Preisniveau noch das Zinsniveau direkt betroffen. Der aktuell zuneh­mend verlangte Negativzins ändert zwar den Preis des Geldes bzw den Preis der Geld­nutz­ung, egal ob man ihn als Zins oder als Bankgebühr be­han­delt. Nur wird das nach indi­vi­dueller Geschäftspolitik einer betreffenden Bank gehand­habt, also recht unter­schied­lich, nicht flächendeckend für alle gleich.

Bankgebühr, Verwahrentgelt
Immer mehr Banken, die Negativzins nehmen, sind dazu übergegangen, diesen als ein zusätzliches 'Verwahrentgelt' zu deklarieren. Nur, worin soll diese zusätzliche Bank­dienst­leistung bestehen? Am Drum und Dran des Konten- und Über­weisungs­manage­ments hat sich nichts geändert. Es wird nichts zusätzlich zur Verfügung gestellt, noch sonst ein zusätzlicher Dienst erbracht. Überschussreserven sind mehr als reichlich vorhanden. Die Mindest­reserve­hal­tung wurde anlässlich der Finanzkrise 2008 auf 1% der betreffenden Bankeinlagen reduziert und hat sich seither nicht ge­ändert. Und technisch gesehen ist es dem IT-Apparat gleich, ob er fünfhundert oder fünf Millionen Euro überweist und speichert. An und für sich sollten die Kosten für die Kontoführung und einen angemessenen Gewinn abgegolten sein durch die Gebühren für die Konto­führung im allgemeinen und spezielle Überweisungsgebühren im beson­deren.  

Ebenso wenig ist einzusehen, dass die vermeintliche Servicegebühr als Prozentsatz vom Kontostand erhoben wird. Seit wann gibt es das? Parkgebühren, Lagerhausmieten oder der Strom­preis richten sich ja auch nicht nach jemandes Ein­kom­men und Geld­vermögen. Gewiss, manche Banken berechnen die Verwaltungsgebühren für Wert­papierdepots ihrer Kunden als einen Prozentsatz vom Vermögenswert zusätzlich zu einer Grundgebühr. Auch wenn das 'schon immer' so gehandhabt worden ist, recht einzusehen ist auch das nicht. Da mögen die Depotverwalter noch so oft auf Rechtsanwälte verweisen, deren Honorare maßgeblich vom Streitwert eines Falls abhängen.

Kostenüberwälzung
Die Sache mit dem zusätzlichen Verwahrentgelt bleibt auch insofern inkonsistent, als die Banken damit argumentieren, sie würden mit dem 'Verwahrentgelt' nur die Kosten an ihre Kunden weiterreichen, welche die Zentralbank den Banken abverlangt. Die EZB ver­langt aber kein zusätz­liches Verwahr­ent­gelt, sondern eine als Negativ­zins dekla­rier­te Abgabe auf die Überschuss­gut­haben einer Bank bei der Zentralbank. Die Min­dest­­reser­ven der Banken sind davon befreit.

Was den Umfang der Zahlungen angeht, dürfte der Negativzins, den die EZB einer Bank abnimmt, und die Verwahrentgelte, welche diese Bank ihren Kunden abnimmt, in der Summe nur selten gleich groß sein. Solange die Banken noch zurückhaltend sind und nur wenige Kundenguthaben mit einem geringeren Abgabesatz als dem der EZB belasten, dürfte die Zusatzeinnahme der Banken geringer sein als die Zusatzbelastung durch den Negativ­zins der EZB. Soweit aber die Banken ihre Zurückhaltung verlieren, immer mehr bis alle Kunden belasten, und das zu einem Satz, der gleich oder sogar höher ist als der EZB-Satz, nehmen die Banken ihren Kunden viele Male mehr Geld ab als die EZB von den Banken nimmt. Das Ergebnis hängt nicht nur vom Abgabesatz ab, sondern vor allem von etwas anderem, nämlich: dass im bestehenden fraktionalen Reservesystem die Giro-, Spar- und Termin­ein­lagen der Kunden bei Banken um ein Vielfaches höher sind als die Über­schuss­reser­ven der Banken bei der Zentralbank.

Anfang 2021 beliefen sich die Reservenguthaben der Euro-Banken bei der EZB (Ein­lage­fazi­lität) auf 734 Mrd (davon der deutsche Anteil 229 Mrd). Die Kunden­depo­siten bei Banken beliefen sich auf 12.039 Mrd (deutscher Anteil 3.349 Mrd). Davon sind um die 70% laufende Giroguthaben, der Rest Spar- und kurzfristige Termin­guthaben.[19] Angenommen sowohl die EZB als auch die Banken erheben eine gleich hohe Abgabe (im Sommer 2021 0,5%) und die Banken erheben diese auf alle Kundeneinlagen. Dann wäre die Summe dessen was die Banken ihren Kunden abneh­men über 16mal (Deutschland über 14mal) höher als die Summe, welche die EZB den Banken abverlangt. Ein solches Vielfaches als schlichtes 'Weiterreichen' von Kosten hinzu­stellen, ist eine arge Ver­harm­losung des Zugriffs auf den Geldbesitz der Bank­kunden, der sich in den Zahlen andeutet. Das ist sicherlich ein weiterer guter Grund, weshalb Verbraucherverbände gegen den Negativ­zins klagen können.

Abgabe, quasi Geldsteuer, Eigentumsdelikt
Da nun der Negativzins weder als Zins noch als Verwahrentgelt noch als einfache Kosten­überwälzung eine plausible und fachlich solide Fundierung besitzt, bleibt die Behandlung der Sache als Abgabe. Um eine prozentuale Abgabe handelt es sich zweifellos. Ist der Negativzins also eine verkappte Geldsteuer auf Reserven bzw Bankengeld?

In gewissem Sinn ließe sich das so sehen, nur, eine 'Steuer' die dem privaten Gewinn der Banken bzw dem Gewinn der Zentralbank zugute kommt, wäre nicht rechtens. Zwar werden die Banken vom Finanzamt als Kapitalsteuer-Eintreiber in die Pflicht genommen, so wie auch andere Firmen als Eintreiber von Lohnsteuer, Mehr­wert­steuer, Mineral­öl­steuer o.a. Aber davon behalten dürfen sie nichts. Sie werden für den Aufwand nicht einmal ent­schä­digt. Niemand außer den Parlamenten darf eine Steuer beschließen, niemand außer den Finanzbehörden eine Steuer erheben. Auch andere Abgaben und öffentlich-rechtliche Gebühren dürfen nur von kommunalen und staat­lichen Organen erhoben werden. Selbst die staatlichen Zentralbanken und die staaten­gemein­schaftliche EZB dürfen so etwas nicht. Und würden sie im staatlichen Auftrag eine Geldsteuer eintreiben müssen (was zusätzlich zu Einkommens- und Vermögens­steuer eine Monstrosität wäre), so müsste das Aufkommen vollständig ans Finanzamt fließen, nicht ins Gewinnkonto einer Bank oder der Zentralbank.

Von daher stellt sich ernstlich die Frage, ob die Abgabe namens Negativzins nicht doch eine Quasi-Geldsteuer ohne Rechts­grund­lage ist, eine Enteignung von Geldbesitz, zunächst als Kompetenzüberschreitung der Zentralbank in Verquickung monetärer und fis­ka­lischer Zuständigkeiten, ein unbe­fugter Zugriff der EZB auf den Reser­ven­besitz der Banken, anschließend als unbefugter Zugriff der Banken auf den Banken­geld­besitz der Kunden, somit ein Eigen­tumsdelikt, eine Vermögens­rechts­verletzung. In einem Gut­achten für die Sparda-Banken vertritt der Verfassungsrechtler P. Kirchhof eine solche Auffassung.[20]

Sonderabgabe zur Kompensation schwindender Zinserträge
Wenn die Sache in jeder Hinsicht auf so wackligen Beinen steht, warum halten die EZB und immer mehr Eurobanken dennoch daran fest? Die Verfechter von Niedrigzins, wie eingangs erläutert, sehen darin die für sie logische Fortsetzung der Zinspolitik in neues, freilich fiktives Terrain. Kritiker sehen die Sache  in ähnlicher Perspektive, nur eben als eine unsachgemäß überdehnte und damit entstellte Maßnahme konventioneller Zins­politik, ein Akt der Ratlosigkeit im Versuch, die Wirksamkeit der Zinspolitik wieder her­zu­stel­len, die im bestehenden Giralgeldregime weitgehend verloren gegangen ist.[21] Aber wenn Negativzins kein Zins ist, dann geht es folglich auch nicht um Zins- und Geld­politik. Die zuletzt ent­wickel­ten Überlegungen rücken stattdessen noch einen wei­te­ren Aspekt ins Blickfeld: Es geht um den speziellen Geschäftszweck der EZB und der Banken, die abnehmenden Zinserträge infolge der allgemein geschmälerten Zinsmarge durch eine Sonderabgabe zu kompensieren.

Der langfristige Trend zu Niedrig­zinsen hat seit den 1980ern bestanden. Seit der Krise haben die Zentralbanken darauf zusätzlich ihre Niedrig­zins­politik durch Quantitative Easing aufgesattelt. Der Vorgang ist auch als finanzielle Repression bekannt.[22] Dies bedeutet, dass das Niederdrücken des Zinsniveaus auf +1 bis -1 Prozent die Ver­schul­d­ungskosten (nicht nur der Staatshaushalte) künstlich niedrig hält. Das ermöglicht fort­gesetzte Mehrverschuldung und stabilisiert dennoch den Kurs betreffender Wert­papiere und damit auch die Finanzwirtschaft allgemein. Liegt hierbei die VPI über den Haben­zinsen für Bank­depo­siten, findet eine schleich­ende Wert­min­de­rung der Geld­ver­mögen statt. Liegt die VPI über der Verzinsung von Staats- und Firmen­anleihen, bedeu­tet dies eine Art schleichender Umver­teil­ung der Lasten von Schuldnern zu Gläubigern. Umso mehr steigt die Nachfrage nach Finanz­kapital­bildung, was Asset­inflation mit sich bringt.

Dieser Effekt wird nochmals verstärkt, wenn und je weiter die Nullzins­grenze künstlich in den negativen Bereich hinein gedrückt wird – wenn also zum Beispiel auf Bank­depo­siten nur noch ein minimalster oder gar kein Habenzins mehr bezahlt und stattdessen eine Abgabe auf den Kontostand auferlegt wird; desgleichen, wenn Staats­anleihen mit negativer Rendite – sprich Kapitalverlust für die Gläubiger – emittiert werden.

Was als Negativzins oder Verwahrentgeld hingestellt wird, zeigt sich so gesehen als Ab­wälz­ung eines Ertragsschwunds durch eine oktroierte Sonderabgabe der Banken an die EZB bzw der Kunden an ihre Banken, um die schwindenden Zinsmargen von EZB und Banken wett zu machen – ein Schwund, der von beiden selbst verursacht worden ist, durch die überschießende Banken­geld­schöpfung und anschließend durch die überaus lockere Geldpolitik der Zentralbanken.

Die Zinsrepression der Zentral­banken konterkariert deren Maßnahmen zur Stützung der Banken. Es haben sich ja nicht nur die Habenzinsen und Refi­nan­­zierungssätze als Kosten der Banken abgesenkt, sondern auch die Kapital­markt­zinsen und Invest­ment­erträge, die Banken einnehmen. Nun haben in der EU zusätzlich auch noch Negativ­zinsen die Gesamtzinsmarge der Banken verringert.

Zum Beispiel sank die Zinsmarge im Kredit- und Einlagengeschäft der deutschen Ban­ken von 2000 bis 2011 von 4,5 auf 3,5 Prozent, und von da bis 2020 auf 2 Prozent.[23] Der Zins­über­schuss fiel dabei in den letzten zehn Jahren von rund 75 Mrd Euro auf unter 65 Mrd.[24] Die gesamten operativen Erträge der Banken sind seit 2010 von 132 auf 119 Mrd zurückgegangen. Im Gegenzug konnten die Kreditinstitute ihre Provisions­überschüsse von rund 27 auf über 31 Mrd Euro stei­gern. Dem steht wiederum ein etwas gestiegener Verwaltungsaufwand gegenüber, beson­ders bei Volksbanken und Sparkassen (die sich mit Negativzinsen besonders hervor­tun).[25]

In der Tendenz bestätigt das die Sicht auf den Negativzins als geschäfts­politi­sche Sonderabgabe zur Kompensierung schwindender Zins­er­träge. Allerdings sind  diese Rückgänge nicht dramatisch oder gar existenz­gefährdend verlaufen. Und selbst wenn man es in dieser Weise verstehen möchte, macht das die Sache weder legitim noch akzeptabel. Denn es bleibt eine Abgabe, deren Recht­mäßigkeit zweifelhaft ist. Es gibt keinen stimmigen Geschäfts­grund, auf Geldguthaben einen Sollzins zu nehmen oder auf Anleihen und andere Arten von  Fremdkapital eine negative Rendite abzu­ver­langen. In solch einer ver­kehrten Geschäftswelt gedeiht auf Dauer keine Wirtschaft. Sofern aber Banken zur Auffassung gelangen, sie müssten für die Kontoverwaltung und den Zahl­ungs­ver­kehr des Bankengelds der Kunden höhere Gebühren verlangen, dann sollen sie es auf dem Weg regulär abzu­ändern­der Geschäfts­­bedin­gungen tun. Das gilt auch und gerade für die EZB. Wie weit das für die Banken am Markt trägt, würde man sehen. Der Wett­be­werb durch neue Finanz­inter­mediäre und Zahlungsdienste wird an den Geschäfts­modellen herkömmlicher Banken auch weiterhin nicht spurlos vorbei gehen.

Was nun?

Welche Auffassung zur Einordnung von Negativzinsen letztlich auch überwiegen mag, im Grunde ist allen Beteiligten klar, dass diese Sache nicht auf Dauer bestehen kann. Die Zentralbanken erklären immer wieder einmal, sie beabsichtigten, in den Bereich normaler Zinsniveaus zurückzukehren sobald die Um­stände es erlauben. Welche Umstände verbieten es?

Es besteht die Sorge, ein spürbar einsetzender Zinsanstieg werde ange­sichts der hohen Verschuldung vieler Staatshaushalte sowie auch mancher Firmen eine schwere Schul­den­­krise auslösen. Das würde die neuerlich sich bildenden Blasen an Immobilien- und Aktienmärkten implodieren lassen. So könne es zu einer erneuten großen Finanzkrise kommen – die durch die ergriffenen Maß­nahmen doch ver­hin­dert werden sollte.

Da hat man sich sauber in eine Ecke gepinselt, aus der man sauberen Fußes wohl nicht herauskommt. Für die EZB müsste der erste Schritt darin be­ste­hen, den Unfug namens Negativzins zu beenden. Wenn die herkömmliche Zinspolitik nicht mehr recht funktioniert, oder ein überkommenes Geschäfts­modell im Wett­bewerb nicht mehr trägt, ist das keine akzep­table Begründung dafür, kontra­pro­duk­tive und möglicher­weise unrecht­mäßige Prak­ti­ken zu verfolgen.

Zweitens lässt sich die befürchtete Schuldenkrise dadurch ver­meiden, dass man den großen Berg an Staatsschulden neutralisiert. Das ist in der Weise möglich, dass die EZB, die heute bereits ein Drittel der Staats­schul­den hält, weiterhin Staatsanleihen am offenen Markt aufkauft. Die betreffenden Forderun­gen und Verbindlichkeiten, statt sie zu tilgen, werden in der Zentralbankbilanz bei Fälligkeit auf unbestimmte Zeit konso­li­diert, indem man sie in Nullzins-Dauer­anleihen umwandelt (zero-coupon perpetual consols).[26] Der Nullzins folgt hierbei aus dem Sach­verhalt, dass Zinszahlungen der Regie­rung an die Zentralbank mit dem Zen­tral­bank­gewinn wieder an die Regierung zurück fließen. Diese Art Verschiebe­bahnhof ist entbehrlich. Die Nichtbefristung der Anleihen eröffnet einen lang­fris­ti­gen Handlungs­spielraum. Im Verlauf von Jahrzehnten relativieren sich Schulden selbst bei niedriger Inflation erheblich.   

Unter der Voraussetzung weitgehend neutralisierter Staatsschulden lässt sich drittens die Politik finanzieller Repression beenden. Die EZB ebenso wie andere Zentralbanken können dann das Ihre beitragen, um das Zinsniveau auf historische Normal­niveaus anzuheben. Das erfolgt für die Zentralbankzinsen in stetigen Trippelschrittchen, die niemanden beunruhigen, lange genug und detailliert im voraus angekündigt.

Viertens würde es die Transmission und also Wirksamkeit der Geldpolitik sehr ver­bes­sern, würden die Zentral­­banken ihre momentan immer noch zögerlich-defensive Haltung zur Einführung von digi­­ta­­lem Zentral­bank­geld aufgeben. Vielmehr sollte ein digi­taler Euro so bald wie technisch möglich offensiv verbreitet werden, als gesetz­liches Zahlungs­­­mittel im allge­meinen Gebrauch und ohne künst­liche Limite der Verfüg­bar­keit und Ver­wendung.[27] Das Geldsystem befindet sich in einem tief­greif­en­den Wandel. Rück­wärts gewandtes Beharren auf alten Gewohnheiten kann in einer solchen Situation nur schaden.

Anhang
Der Geld- und Kapitalüberhang namens 'savings glut' als strukturelle Ursache des Niedrig- bis Null­zins­niveaus

Einer verbreiteten Annahme zufolge steuern die Zentralbanken das  Zins­niveau gemäß ihren geldpolitischen Zielsetzungen. Das ist weit­gehend ein Mythos, und dazu ein recht zweischneidiger. Zen­tral­ban­ken können nur den Zins auf Zentral­bank­geld bestimmen (Bargeld und Reserven). Je kleiner der Anteil der Zentralbank-Geldmenge am gesamten aktiven Geldangebot ist, desto geringer die Lenkungswirkung, die von den Zentral­bank­zinsen ausgeht. Ins­ge­samt folgen die Zentralbanken dem vorherrschenden Zinstrend viel mehr als dass sie ihn bestimmen würden.

Der heutige langfristige Zinstrend ergibt sich aus dem weltweiten sog. Erspar­nis­über­hang (savings glut). Der fort­ge­setzte Rück­gang der VPI und des Zins­niveaus seit um 1980 wird meist der Globalisierung zugeschrieben, speziell der Niedrigkosten-Konkur­renz aus Niedriglohn-Ländern, im Zusammenhang damit auch der geschwäch­ten Position der Gewerkschaften in Lohnverhandlungen. Eine weitere wichtige Ursache aber war die globale Finanzialisierung. Anfänglich beruhte die Finan­zia­lisierung auf einem stark gewachsenen industriellen Wohlstand, später jedoch zunehmend auf zu­sätz­licher Geldschöpfung und Kredit­aus­weit­ung zwecks Ausweitung bzw Aufhebe­lung von Finanzgeschäften. Das mündete in diverse Finanzblasen und Krisen auf wandern­den welt­regio­nalen Hotspots, besonders in Aktien, Immobilien, Staatsschulden und Währungskrisen.

Die Entwicklung beruhte, und beruht weiterhin, auf überschießender pro-aktiver Giralgelderzeugung der Banken, jederzeit zum geringen Bruch­teil refinanziert von den Zentral­banken und multi­­pli­ziert durch Geld­markt­fonds-Anteile und andere neue Geld­surro­gate; eingesetzt in einem finanz­wirt­schaftlichen Umlauf, der sich rapide be­schleu­nigte durch neue IT und neue Verbriefungspraktiken zum vorfälligen Wieder­ver­füg­bar­machen von sonst gebundenem Kapital. Die resultierende stark BIP-über­pro­por­tio­nale Ausweitung von Geld, Kredit und Schulden im Finanzsektor bewirkte folglich keinen Auftrieb der VPI, sondern führte zu Assetinflation und Blasenbildung. Als einge­fahr­en­es Muster indiziert dies 'too much finance' (genauer gesagt, zu viel Nicht-BIP-Finanzen, die nicht zur Finanzierung des Output beitragen, im Unter­schied zu BIP-Finanzen, die zur Finanzierung des Output beitragen), zum Nach­teil der Real­wirt­schaft, ein­­schließ­­lich einer Schlag­seite zuguns­ten der Finanz­ein­kom­men und also zulasten der Arbeits­ein­kommen.[28]

Was verharmlosend Ersparnisüberhang (savings glut) genannt wird, ist tatsächlich ein nie dagewesenes Übermaß an anlagesuchendem Finanzkapital. Es sucht sein Speku­la­tions­glück vor allem in nicht-BIP-beitragenden Bereichen der Finanzwirtschaft (bloßer Handel mit Immobilien, Aktien, Anleihen, Derivaten, Devisen) – ein großes Über­an­gebot an Geld und Kredit, das einen Nachfragermarkt bildet und die Zinssätze drückt. Überschießende Geldschöpfung im Fremd­kapi­tal­ange­bot schafft so niedrige Zinsen und dadurch zugleich die wichtigste Vor­aus­setzung für fortgesetzte Finanzmarktbooms und Assetinflation.[29]  

Die letzte starke Herabsetzung der Zentralbankzinsen erfolgte in der heißen Phase der Banken- und Schuldenkrise 2008. Die Krise galt von daher als Ursache der Nied­rig­zinsen.[30] Das ist nicht falsch, aber doch zu kurz gegriffen. Die Krise ebenso wie der langfristige Rückgang des Inflations- und Zinsniveaus waren die Folge jener Finanz­mega­blase, die man als Ersparnisüberhang verharmlost. Den Zentralbanken blieb nichts anderes übrig als dem disinflationären und am Ende schon teils deflationären Trend zu folgen, indem sie ihre Basiszinsen auf ein Niedrig- und Nullniveau absenkte und durch die QE-Politik eine zusätzliche Reservenflut unter die Banken brachte – was den Geld- und Kapitalüberhang und den Abwärtsdruck auf die Zinsen nur umso mehr verstärkt hat. Das Ergebnis somit: Finanzrepression bzw Zinsrepression, einher­gehend mit suboptimalem Wirtschaftswachstum und ent­sprechen­der Lohn­repres­sion. Zugleich stellt der bestehende Geld- und Kapital­über­hang das größte Hindernis dar, mit dem sich die Zentral­banken kon­fron­tiert sehen in ihren Bemü­hungen, wieder zu einem Normalzustand zurückzukehren.

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Endnoten

[1] Rogoff 2017.              

[2] Buiter/Panigirtzoglou 2003, Buiter 2009, Rogoff 2017.

[3] https://www.verivox.de/geldanlage/themen/negativzinsen. Aday 2021.

[4] Jurkšas 2017 27, IMF 2017 14–26.

[5] In den 1920ern bis in die 1930er gab es eine Gesellianische freiwirtschaftliche Geldreformbewegung in Mitteleuropa und den USA. I. Fisher unterstützte diese, bis er sich dem Ansatz der 100%-Reservehaltung zuwandte.

[6] Esselink/Hernández 2017, Krueger/Seitz 2014 7, Rogoff 1998.

[7] Zu den Befürwortern einer Bargeldabschaffung zwecks Auferlegung von Negativzins gehören Svensson 2003, Buiter 2009, Rogoff 2014, Ball/Honohan/Gagnon/Krogstrup 2016.

[8] Barrdear/Kumhof 2016, Kumhof/Noone 2018, Sveriges Riksbank 2017, 2018.

[9] Zum Beispiel Agarwal/Kimball 2015, Rogoff 2017, Bordo/Levin 2017 3, Bordo 2018 3. 

[10] IMF 2018 4, 29.

[11] Assenmacher/Krogstrup 2018.   

[12] Zur Problematik von Negativzins auf Reservenguthaben der Banken bei der Zentralbank vgl. Gudehus 2017.

[13] IMF 2017. Jurkšas 2017. de Sola Perea/Kashama 2017.

[14] de Sola Perea/Kashama 2017 47.

[15] Deutsche Bundesbank 2018 68.

[16] Buiter 2001 32ff., Buiter/Panigirtzoglou 2003.

[17] Broer 2007, Lietaer 1999 Kap.5.           

[18] Siehe Ryan-Collins Ryan-Collins/Lloyd/Macfarlane 2017.  Auch https://vollgeld.page/die-hemisphaeren-der-finanzwirtschaft.

[19] Deutsche Bundesbank, Monatsbericht, April 2021, Daten im Tabellenanhang II.2 und III.2.  

[20]  Siehe Interview von D. Rosenfeld und D.Siems mit P. Kirchhof 'Negativzins ist verfassungswidrig', Welt online, 3.7.2021. Vgl. auch Köhler 2015.

[21] Siehe auch Palley 2016.                         

[22] Schnabl 2014, Smith 2014, Hoffmann/Zemanek 2012, Reinhart/Sbrancia 2011, Diaz-Alejandro, C.F. 1984. Der Begriff der Finanz- oder Zinsrepression, im Ergebnis auch Lohnrepression, geht zurück auf Shaw 1973 sowie McKinnon 1973.

[23] Deutsche Bundesbank 2018 56, 2020b 29.

[24] Deutsche Bundesbank 2020b 29f.             

[25] Deutsche Bundesbank 2020 88, 90. Dohms 2020.

[26] Vgl. https://vollgeld.page/monetaere-finanzierung-von-staatsausgaben.

[27] Vgl. https://vollgeld.de/dominantes-geld-ii-der-aufstieg-des-digitalen-vollgelds-cbdc.

[28] Arcand/Berkes/Panizza 2012, Atkinson 2015 18–19, 82–109.     

[29] Theorien von Finanzzyklen, mehr oder weniger unabhängig von Konjunkturzyklen, bei Borio 2012, 2017, Borio/ Hof­mann 2017, Shiller 2015, Minsky 1982, 1986.

[30] Zum Beispiel Assenmacher/Krogstrup 2018.